Isabella Spirig: «Die Tanzwelt denkt in anderen Dimensionen»

Interview mit Isabella Spirig (Steps)
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© Caroline Minjolle

Isabella Spirig ist die kreative Frau hinter dem Migros-Kulturprozent Tanzfestivals Steps. Als im Frühling wegen COVID-19 klar wurde, dass kein Festival stattfinden kann, fand das Team um Spirig trotzdem eine Lösung. Im Gespräch erzählt sie von dieser Lösung und von Schwierigkeiten bei einer Absage, aber auch von Möglichkeiten beim Steps 2020 sowie über Identität zwischen Selbstbewusstsein und Narzissmus und die Systemrelevanz von Kultur.

 

Liebe Frau Spirig, Sie hatten aufgrund von COVID-19 in den letzten Monaten sicherlich mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mögen Sie uns erzählen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die Festival-Organisation von Steps hatte?

 

Das Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps findet alle zwei Jahre statt und tourt durch 30 – 35 Städte, bespielt rund 40 Bühnen und präsentiert jeweils 80 – 90 Vorstellungen. Das setzt eine sehr gute Planung voraus und die entsprechende Organisation nimmt rund zwei Jahre in Anspruch. Das Festival findet im April und Mai statt. Das bedeutet, dass ein Grossteil der Arbeit bis zum Zeitpunkt der Absage bereits geleistet wurde. Am 13. März hat die entscheidende Medienkonferenz des Bundesrats stattgefunden und es war klar, dass wir das Festival absagen müssen. Ein Festival aufzulösen ist in etwa gleich anspruchsvoll, wie ein Festival durchzuführen mit dem Unterschied: das eigentliche Glück: die Begeisterung des Publikums, die Zufriedenheit der Partnertheater und das Wohlbefinden der Künstler*innen – ist nicht erlebbar, das schmerzt natürlich….


Wir freuen uns jedoch, die vier Koproduktionen zu den Aufführungen zu bringen: Es sollen nun 23 Vorstellungen verteilt über die ganze Theatersaison 2020/2021 stattfinden und wir können hoffentlich unsere Verantwortung als Ko-Produzentin wahrnehmen.


Die Unterstützung des Kulturschaffens ist gerade jetzt sehr wichtig. Das Migros-Kulturprozent bleibt in dieser herausfordernden Zeit seinem Engagement gegenüber der Kultur treu und präsentiert zusammen mit den Theaterhäusern die vier Koproduktionen trotz grossen Herausforderungen.

 

Die Programmgestaltung und das übergeordnete Thema «Identität», welches Sie gewählt haben, ist gerade im Hinblick auf die Krise, in der wir uns befinden, sehr interessant. Wohin wird das Publikum mitgenommen in diesen vier Koproduktionen,
die nun doch gezeigt werden können?

 

Den Auftakt der Vorstellungsserie machte Ioannis Mandafounis mit seinem Stück «Faded» am 17. Oktober im Luzerner Theater und wird bis Mai 2021 in verschiedenen Städten zu sehen sein. In seinem Stück schlüpft der Genfer Tänzer und Choreograf ein letztes Mal in die Rolle des klassischen Tänzers und liefert eine facettenreiche, tiefgründige und humorvolle Tour de Force des Tanzes – kongenial unterstützt von der Künstlerin und Performerin Antigone Frida.


Die ursprünglich geplante Festivaleröffnung «I am who I am who I am» von Tanz Luzerner Theater kann nun zu Beginn der Spielzeit im dicht gedrängten Programm des Luzerner Theaters doch zur Uraufführung gebracht werden. Der Abend zeigt Choreografien der Schweizerin Jasmine Morand, der Israelin Ella Rothschild und der Britin Caroline Finn. Die drei Choreografinnen setzen sich auf individuelle, intelligente und humorvolle Art und Weise mit dem Thema Identität auseinander.


In «Nothing Left» beleuchtet die Basler Choreografin Tabea Martin die Auswirkungen, die der Tod von anderen auf uns hat. Dabei eröffnet der Tanz für das Unaussprechliche eine neue Ebene der Kommunikation. Am 28. und 29. November in Basel zu sehen und bis Juni 2021 auf Tournee quer durch die Schweiz.


Last but not least die internationale Koproduktion «LUDUM» der belgischen Anton Lachky Company: Choreografiert wie eine Spielshow, präsentieren sich die Kandidat*innen in «LUDUM» mit kurzen, kraftvollen Soli. Sie tanzen im Zeitraffer, in rasender Hollywood-Perfektion oder mit asiatischem Kampfkunst-Furor – ab dem 8. April 2021 bis zum 1. Mai.

 

 

Ein Festival aufzulösen ist in etwa gleich anspruchsvoll, wie ein Festival durchzuführen mit dem Unterschied: das eigentliche Glück: die Begeisterung des Publikums, die Zufriedenheit der Partnertheater und das Wohlbefinden der Künstler*innen – ist nicht erlebbar, das schmerzt natürlich …

 

 

Wer sich seiner Identität bewusst ist, hat sich mit sich selbst beschäftigt. Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstverliebtheit?

 

Selbstverliebtheit ist gelebter Egoismus. In der Regel neigen narzisstisch veranlagte Menschen wenig dazu, über sich selbst, aber auch über sich im Kontext der Gesellschaft kritisch zu reflektieren.

 

Selbstbewusstsein ist im Gegensatz dazu positiv behaftet, jedenfalls, so wie ich es interpretiere. Es ermöglicht einer Person, sowohl die eigenen Stärken als auch Schwächen anzunehmen, die eigene Rolle immer wieder konstruktiv zu hinterfragen. Das finde ich wichtig, denn wann immer man sich für eine übergeordnete Mission einsetzen möchte, gilt es, die eigenen Fähigkeiten strategisch und mit Fingerspitzengefühl zu nutzen.

 

Spricht man über Identität, so ist bald auch von Eigenem und Fremdem und von Grenzen die Rede. Was verstehen Sie unter Fremdenfeindlichkeit und ist sie Ihnen jemals begegnet?

 

Die Tanzwelt denkt in anderen Dimensionen – gibt es Compagnien mit nur einer Nation von Tänzer*innen? Vermutlich ausschliesslich in Diktaturen…

 

Ansonsten kenne ich nur das Zusammenwirken von verschiedenen Nationen, Religionen, Sprachen und das Verfolgen von gemeinsamen Zielen. Das lösungsorientierte Zusammenwirken ist für Tanzschaffende eine Selbstverständlichkeit.

 

Was bedeutet Ihnen Kunst und konkret der Tanz?

 

Kunst hat die Kraft, Utopien zu entwerfen und greifbar zu machen, sowie gesellschaftspolitisch relevante Themen zu setzen und zu reflektieren. Für den Tanz gilt das besonders, weil er das gemeinsame Agieren und Funktionieren im echten Sinne des Wortes vorbildhaft vor Augen führt.

 

Ist Tanz systemrelevant?

 

Kunst insgesamt ist systemrelevant! Den Corona-Lockdown ohne Musik, Bücher, Netflix und online-Tanzkurse zu überleben, wäre nicht möglich gewesen. Alles sind Erzeugnisse von Kunstschaffenden.

 

Und gerade der Tanz kann besonders schlüssig etwas zum aktuellen Diskurs über Nähe und Distanz, der durch die Corona-Krise noch mehr an Brisanz gewonnen hat, in der Gesellschaft beitragen. Der Themenbereich betrifft die Kunstform in ihrem Innersten. Und, wie bereits erwähnt, das Arbeiten im Tanz ist vom Wesen her lösungsorientiert, denn sonst funktioniert keine einzige Choreografie.

 

Liebe Isabella Spirig, besten Dank für Ihre Zeit und die Beantwortung meiner Fragen. Viel Erfolg und Freude während der Tournee.

 

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Info-Box:

 

Steps-Vorstellungen in der Saison 2020/2021 in der Spielzeit 2020/2021

 

Nach der Absage der 17. Ausgabe unserer Biennale im Frühling warten ab Herbst Höhepunkte des zeitgenössischen Tanzes auf das Publikum. Vier unterschiedliche, aber gleichsam inspirierende Koproduktionen des Migros-Kulturprozent Tanzfestivals Steps gehen auf Tournee in der Schweiz – für einmal nicht während 24 Festivaltagen, sondern verteilt über die ganze Theatersaison 2020/2021.

 

- «Faded» von Ioannis Mandafounis macht den Anfang am 17. Oktober und wird bis 22.Mai 2021 zu sehen sein.

 

Weitere Koproduktionen:

- «I am who I am who I am» von Tanz Luzerner Theater (Uraufführung am 28. Oktober im Südpol LU mit Vorstellungen bis 5. November)

- «Nothing Left» von Tabea Martin (Uraufführung am 28. November in der Kaserne Basel mit Vorstellungen bis16. Juni 2021)

- «LUDUM» von der Anton Lachky Company (Schweizer Uraufführung am 8. April bis 1. Mai2021)

 

Infos unter www.steps.ch

Tickets: Programm

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Yolanda Gil / Mo, 19. Okt 2020