Was bestimmt unser Leben? Wir selbst?

Movie-Kritik: Das bessere Leben ist anderswo
Bildquelle: 
www.filmcoopi.ch

Emilio schüttelt wild den Kopf, sein langes, dunkles Haar fliegt hin und her, während er eine unsichtbare Gitarre malträtiert. Die kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung mitten in Havanna erzittert unter den harten Rhythmen einer nordischen Heavy Metal Band.

 

Später liegt Emilio mit nacktem Oberkörper auf dem Bett und erzählt, erzählt von sich und seinem Leben und seiner Unzufriedenheit, während er zärtlich eine Schlange, die sich auf seinem Bauch zusammengerollt hat, streichelt. Emilio ist Psychiater. Er arbeitet in einem grossen Krankenhaus in Havanna, gilt als systemkritisch und auffällig. Sein grösster Wunsch ist es, Kuba zu verlassen und andere Länder, andere Kulturen kennen zu lernen. Doch Emilio darf nicht ausreisen.

 


Emilio ist einer von drei Menschen, die der Schweizer Filmemacher Rolando Colla neun Jahre lang begleitet hat. Immer wieder hat er diese drei unterschiedlichen Menschen besucht, mit ihnen geredet, ihren Alltag mit der Kamera dokumentiert. Entstanden ist ein Film über Sehnsucht. Sehnsucht, die alle drei Porträtierten stark empfinden, sei es die Sehnsucht nach Freiheit, nach Glück, nach dem Anderen, nach Bewegung, nach Geborgenheit. Über die Sehnsucht, die wir alle empfinden.

 


Das Schicksal?

 


Ähnlich wie Emilio möchte auch Andrea weggehen. Die gelernte Krankenschwester fühlt sich in der Schweiz eingeengt und träumt von der weiten Welt. In den Ferien in der Türkei lernt sie einen Mann kennen und lieben und ihr Traum scheint ein bisschen näher zu rücken. Die beiden heiraten und Özgür kommt in die Schweiz. Andrea und ihr Gatte planen, später ein kleines Hotel in der Türkei zu eröffnen. Das Paar hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Özgür findet in der Schweiz keine Arbeit. Am Ende sammelt Andrea die Überreste ihrer Habseligkeiten in ihrer ausgebrannten Wohnung ein, als wären es die Scherben einer zerbrochenen Zukunft.

«Wer hier Regie führte und das Drehbuch schrieb, war die Realität selbst», sagt Rolando Colla über seinen Film. Trotzdem sind es die Träume der Protagonisten, die diese Realität vorantreiben. Immer wieder filmt die Kamera durch - manchmal regenverschleierte - Scheiben, im Auto, im Zug, der Strassenbahn, im Flugzeug. Da ist eine Welt jenseits der Scheiben, manchmal klar erkennbar, manchmal diffus. Genau wie der Traum von einem anderen Leben. Solche Details der Bildsprache verleihen dem Film eine poetische Kraft, wie sie manch ein fiktionaler Film nicht entwickeln kann. Wenn also die Realität in «Das bessere Leben ist anderswo» Regie geführt hat, hat sie das mit sehr viel Sinn für das Träumerische getan.

 

 

Der Zufall?

 

 

Auch die Schneelandschaft, irgendwo in den Bergen hinter Sarajevo, durch die der Schäfer Enver stapft, erinnert an einen Traum, an einen Traum jedoch, der heftig auf die entbehrungsreiche Wirklichkeit, in der Enver lebt, prallt. Enver führt die Schafe in den Pferch und macht sich selbst auf den Heimweg, zurück zu seiner einfachen Hütte, wo er ganz allein wohnt. Jeden Abend isst Enver Käse, Kartoffeln und Brot, raucht eine Zigarette und legt sich dann, nach dem Gebet, schlafen. Enver ist einsam. Er sehnt sich nach einer Familie, nach Frieden, nach Ruhe. Doch Enver hat viel Schlimmes erlebt. Er hegt ein tiefverankertes Misstrauen gegen die Menschen.

 


«Das bessere Leben ist anderswo» ist ein nachdenklicher Film, der viele Fragen stellt und keine beantwortet. Er stellt diese Fragen, indem er ganz wirkliche Menschen sprechen lässt, Einblick gibt in ihr Leben, an ihren Erfahrung Teil haben lässt. Zuweilen grenzt die geduldige Langsamkeit, mit der der Film erzählt, an Langatmigkeit. Wer einfach gut unterhalten werden will, wird nicht auf seine Kosten kommen.


Es ist nicht die spannende Story oder die aufregende Kameraführung, sondern die tiefe Menschlichkeit, einfühlsam eingefangen von den Filmemachern, die «Das bessere Leben ist anderswo» zu einem sehr berührenden und inspirierenden Film macht. Die schönen Landschaftsaufnahmen und der schlichte Soundtrack unterstreichen dabei stimmig die Porträts dreier Menschen, die zusammen zum Porträt eines Gefühls werden, eines Gefühls namens Sehnsucht.

  • Das besser Leben ist anderswo (CH 2012)
  • Regie: Rolando Colla
  • Laufzeit: 90 Minuten
  • Kinostart: 31. Januar 2013
Jasmin Camenzind / Mi, 30. Jan 2013