Zwei Frauen auf Sinnsuche in Kalkutta

Moviekritik: Mother Teresa and Me
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Filmplakat / ©elliot, All rights reserved

Zwei Frauen leben in zwei Städten und in zwei verschiedenen Zeiten und doch verbindet sie ein imaginärer Faden. Dieses Kunststück gelingt dem Film «Mother Teresa & Me» auf bemerkenswert geschmeidige Weise und über eine poetische Bildsprache.

 

Die eine Frau ist Mutter Teresa. Weltbekannte Ordensschwester, unermüdliche Kämpferin für die Armen sowie Friedensnobelpreisträgerin. Die zweite Frau ist Kavita. Sie ist Violinistin, irgendwo Mitte Zwanzig, lebt in London und wurde gerade von ihrem Freund geghostet, weil sie schwanger ist und er damit nicht umgehen kann. Um sich bewusst zu werden, wie es weitergehen soll, reist Kavita zu ihren Wurzeln nach Kalkutta.

 

Die Geschichte von Mutter Teresa spielt in einer wichtigen Phase zwischen 1946 und 1991, Kavitas Geschichte spielt in der Gegenwart. Beide sind in einer existenziellen Krise. Mutter Teresa hat in jener Phase Infrastrukturen für die Armen aufgebaut, aber auch ihren Glauben durch die schlimmen Dinge, die sie auf den Strassen gesehen hat, verloren. Bekannt wurde das erst posthum, als persönliche Briefe öffentlich wurden. Kavita dagegen wird als junge Frau im modernen London durch die unerwartete Schwangerschaft förmlich der Boden unter den Füssen weggezogen. Sowohl Teresa als auch Kavita hadern mit der Situation, gehen aber nicht den einfachen Weg. Das verbindet die Frauen schon früh im Film erstmals. Man verfolgt den aufopfernden Kampf von Mutter Teresa für die Menschen und gegen das Leid auf den Strassen Kalkuttas, wie man Kavita später in denselben Strassen bei ihrer wichtigen Lebensentscheidung folgt. Die beiden Frauen - obwohl durch Jahrzehnte getrennt - sind gar nicht so verschieden.

 

Durch Jahrzehnte getrennt und doch nicht so weit entfernt

 

Die junge Kavita wird von Banita Sandhu gespielt. Sie wurde in London geboren, hat aber indische Wurzeln. Sie passt perfekt in die Rolle und geht förmlich auf in der Darstellung der Violinistin, die vor einer immens wichtigen Entscheidung steht. Mutter Teresa wird von der Schweizer Schauspielerin Jacqueline Fritschi-Cornaz sehr authentisch und aufopfernd dargestellt. Fritschi-Cornaz ist nicht nur Schauspielerin mit über 30 Jahren Berufserfahrung, sie hat das Filmprojekt nach einer Indienreise gestartet und war aktiv in die Entwicklung eingebunden. Passenderweise ist der Film ein Non-Profit-Projekt und sämtliche Erlöse gehen an Institutionen, um armen, behinderten oder verwaisten Kindern in Indien Bildung und Gesundheitsvorsorge zu ermöglichen. Dazu wurde der Film vollständig durch Spenden finanziert. Organisiert wurde das über die Zaryia Foundation, die ebenfalls von Jacqueline Fritschi-Cornaz ins Leben gerufen wurde. Ziel des Films bzw. des Projektes ist es, den Gedanken und die Vision von Mutter Teresa weiterzutragen.

 

Filmfotos: ©elliot, All rights reserved

 

Inszeniert hat den sehenswerten Film der preisgekrönte schweizerisch-indische Regisseur Kamal Musale, der an der National Film and Television School in England Filmregie und Drehbuch studiert hat. Ihn beschäftigte die Frage, was eine Frau, die ihren Glauben verloren hat, antreibt. Besonders, weil Teresa den Verlust ihres Glaubens penibel geheim hielt, den Kampf für die Ärmsten aber nie aufgegeben hat. Wie aber bringt man zwei so unterschiedliche Frauen auf der narrativen Ebene zusammen? Musale sagt in der Pressemappe dazu: «Um Teresa in der heutigen Zeit Relevanz zu verleihen, entschied ich mich, ihre Lebensgeschichte in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen und sie von einer modernen jungen Frau neu entdecken zu lassen, einer Frau, die in der heutigen westlichen Gesellschaft lebt und die Sinnsuche einer jüngeren Generation verkörpert. So entstand die Figur der Kavita.»

 

Die grossen Themen im Film sind der persönliche Glaube und das bis heute kontroverse Thema Abtreibung. Der feinfühlige Umgang mit diesen Themen ist eine der grossen Stärken des Films. In keiner Sekunde versucht «Mother Teresa & Me» sich auf eine Seite zu stellen oder gar zu missionieren. Im Gegenteil. Gerade beim Thema Abtreibung fliessen verschiedene Gesichtspunkte über natürliche Dialoge ein und Gedanken dazu soll man sich ruhig selbst machen. Ähnlich ist es beim Thema Glaube. Zu keiner Zeit versucht der Film Mutter Teresa wegen ihres Glaubens auf ein Podest zu stellen, sondern erzählt rational von einer Frau, die sich komplett aufopfert, um etwas Gutes zu bewirken. So unterscheidet Teresa nie zwischen Glaubensrichtungen und hilft selbstverständlich auch Männern, die sie wegen ihrer Religion bekämpfen wollten. Beim Sterben spielt der Glaube schliesslich keine Rolle.

 

Wunderbare und poetische Bilder

 

Die Figur von Kavita wird dagegen anfangs vermutlich bewusst unscharf gezeichnet. Sie wirkt wie Millionen andere Frauen in Grosstädten der Welt und entwickelt erst mit der Zeit ein Profil. Ähnlich einem Schmetterling blüht sie durch ihren Trip nach Indien regelrecht auf. Im Hospiz in Indien wird sie gefragt: «Bist du hier, um Menschen zu retten oder nur dich selbst?». Im ersten Moment ist Kavita regelrecht überrascht, denn die Frage bringt viele Dinge, die in der Schwebe sind, auf den Punkt.

 

Neben der inhaltlichen bzw. inszenatorischen Stärke sind es die poetischen Bilder Indiens und die harten Aufnahmen von grausamen Realitäten des Lebens in Armut, die sich elegant zu einem harmonischen Ganzen fügen. Dass es dem Film in sehr kurzer Zeit gelingt, in seinen Bann zu ziehen, liegt an solchen kunstvoll gestalteten Aufnahmen. Die geniale Bildsprache beeindruckt. Wenn Schnee in den nächtlichen Strassen Londons fällt und die Dunkelheit erhellt, funktioniert das letztlich auch als Kontrast zum Leben vom Mutter Teresa im Kloster des Jahres 1946 perfekt. Die Schwester ging einst nach Kalkutta, um den Armen zu helfen. Die Bilder von Teresa sind in schweres Schwarz/Weiss mit einem Hauch von Sepia gehalten und wirken wie ein historisches Zeitdokument. Die Armut in den Slums wird in ruhigen Bildern eingefangen und so verstärkt sich die Intensität. Jenes Kalkutta, das Kavita antrifft, ist dafür farbig und lebendig. Die poetisch komponierten Bilder sind in keinem Moment Zufall, sondern verstärken die Geschichte und runden so den Filmgenuss harmonisch ab.

 

Die Gefühls-Odyssee von Kavita und der unerschütterliche Kampf von Mutter Teresa verbinden sich auf organische Weise zu einem eindrücklichen Filmerlebnis. Nicht zuletzt, durch die poetische Bildsprache.

 

  • Mother Teresa & Me (Schweiz/Indien/UK 2022)
  • Regie und Drehbuch: Kamal Musale
  • Besetzung: Banita Sandhu, Jacqueline Fritschi-Cornaz, Deepti Naval
  • Laufzeit: 122 Minuten
  • Kinostart: 27. Oktober 2022

 

Bäckstage Redaktion / Do, 27. Okt 2022